Der kleine Stern von Bethlehem

Dieses Thema im Forum "Kaffeeklatsch" wurde erstellt von Nixe, 22. Dezember 2003.

  1. Nixe

    Nixe Neues Mitglied

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    Hanna Ahrens: Der kleine Stern von Bethlehem

    Der kleine Stern stand am Himmel zwischen Milliarden anderer Sterne. Er
    war ein kleiner, weißer Punkt, unendlich weit entfernt. Keiner bemerkt
    ihn. Eben das war sein Kummer. Er war kein Morgen- oder Abendstern. Kein
    Großer Bär. Nicht einmal das Reiterlein auf der Deichsel des Wagens.
    Als er sah, wie hell der Stern über dem Stall von Bethlehem leuchtete,
    dachte er: „Einmal möchte ich so leuchten! Einmal über dem Stall stehen,
    in dem das Kind geboren ist!“
    Aber die Erde war weit entfernt. Doch das Kind in der Krippe hörte
    seinen Wunsch. Und das Kind sah den kleinen Stern, mitten zwischen den
    vielen anderen Sternen.

    Und dann geschah es: Der kleine weiße Punkt löste sich langsam aus der
    großen Milchstraße und fiel und fiel – immer tiefer. Und während er so
    fiel, wurde er immer größer. Jetzt war er schon so groß wie eine Hand
    und hatte fünf gelbe Zacken. Er sah aus wie ein richtiger Stern.
    Und dann fiel er ganz sanft mitten in den Stall. Auf dem Rand der Krippe
    hockte er und sah etwas erschrocken aus. Maria, die gerade schlief,
    wunderte sich, dass es so hell wurde.

    „Es ist Weihnachten“, sagte das Kind. „Du darfst dir etwas wünschen. Ich
    weiß, du hast einen großen Wunsch.“
    Der kleine Stern aber sah nur das Gesicht des Kindes, wie es ihn anlächelte.
    „Ich habe keinen Wunsch“, sagte der kleine Stern. Er sagte das nicht aus
    Bescheidenheit. Er hatte wirklich vergessen, was er sich so sehr
    gewünscht hatte.
    „Ich möchte nur eines“, sagte er. „Lass mich hier bei dir bleiben – in
    deiner Nähe, wo ich dich sehen kann. Ich möchte immer bei dir bleiben.
    Darf ich das?“
    „Das darfst du“, antwortete das Kind. „Aber du kannst nur bei mir
    bleiben, wenn du weggehst; hin zu den Menschen, die hier auf der Erde
    wohnen. Wenn du ihnen erzählst, dass du mich gesehen hast.“

    „Die Menschen“, sagte der kleine Stern, „werden meine Sprache nicht
    verstehen und mir nicht glauben. Und ... wie soll ich zu ihnen kommen?
    Sie sind ja in ihren Häusern. Die Türen sind zu, es ist kalt.“
    „Weil es kalt ist, sollst du gehen und sie wärmen. Und die Türen? Ich
    selbst werde sie für dich öffnen. Ich werde da sein bei den Menschen, zu
    denen du kommst.“
    Der kleine Stern schwieg. Er fühlte sich jetzt noch kleiner als vorher.
    Als das Kind sah, dass der Stern traurig war, lächelte es ihn an: “Wenn
    du gehst, werde ich dir etwas schenken! Weil du fünf schöne gelbe
    Spitzen hast, will ich dir fünf Geschenke mit auf den Weg geben: Wohin
    du kommst, da wird es hell werden. Die Menschen sollen deine Sprache
    verstehen. Du kannst ihr Herz anrühren. Du kannst Traurige fröhlich
    machen und Unversöhnliche versöhnen.“

    „Ich will es versuchen“, sagte der kleine Stern. Und als er aufstand,
    spürte er, dass etwas von dem Licht, das das Kind umgab, mit ihm ging.
    Etwas von der Wärme und Freude und seinem Frieden.
    Der kleine Stern stand nicht groß und leuchtend über dem Stall, er war
    eher unscheinbar, als er so über die Erde wanderte. Aber er trug ein
    Geheimnis bei sich, von dem die anderen Sterne nichts ahnten: Das Kind
    hatte ihn angelächelt und auf den Weg geschickt. Es hatte ihm Gaben
    gegeben, die er kaum fassen konnte.
    Und so ging es nun über die Berge und durch die Flüsse; er ging dort, wo
    keine Wege waren. So, wie das Kind es gesagt hatte. Überall wohnten
    Menschen.
    Er musste nicht weit gehen, bis er an eine Hütte kam, in der eine alte
    Frau saß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Er konnte sie kaum
    erkennen, so dunkel war es im Haus.
    „Guten Abend“, sagte der kleine Stern. „Es ist so dunkel bei dir. Darf
    ich hereinkommen?“
    „Es ist immer dunkel bei mir“, sagte die alte Frau. „Auch wenn ich Licht
    mache. Ich bin blind. Aber komm nur herein, wer du auch bist.“
    „Danke“, sagte der kleine Stern und setzte sich zu der Frau an den
    Tisch. Und als sie eine Weile so dagesessen hatten, erzählte der Stern
    von seinem weiten Weg vom Himmel und dem, was er in Bethlehem erlebt
    hatte. Und er erzählte so schön, dass die Frau sagte: “Es ist mir fast
    so, als könnte ich das Kind in der Krippe auch sehen. Dabei bin ich doch
    blind, und das Kind ist weit weg. Wenn du bei mir bleibst, ist es
    heller. Bleib bei mir, dann bin ich nicht so allein.“
    „Du wirst nie mehr allein sein“, sagte der Stern. „Das Licht von dem
    Kind bleibt nun immer bei dir! Aber eines ist merkwürdig mit diesem
    Licht: Du kannst es nur behalten, wenn du es weiter verschenkst.“
    „Ich verstehe“, sagte die alte Frau.
    Als sie sich verabschiedet hatten, schloss sie ihre Hütte ab und ging
    über die Felder. Sie ging wie jemand, der sehen konnte.

    Vor ihr auf dem Weg war Licht. Ein Licht, das auch Blinde sehen. Der
    kleine Stern freute sich. Er hatte noch mehr Geschenke zu verteilen, und
    die Weihnachtsnacht war noch nicht zu Ende.

    Sie geht nicht zu Ende. Der Stern wandert noch heute über die Erde. Ich
    kann dir abends am Sternenhimmel den Platz zeigen, wo er gestanden hat.
    Wo er heute ist, weiss ich nicht. Aber ich weiss, dass er nur zu denen
    kommt, die sich etwas wünschen. Die Frau hatte sich gewünscht, nur so
    viel sehen zu können, dass sie aufstehen und gehen könnte.
    Und der kleine Stern – er wäre noch heute ein kleiner weißer Punkt am
    Himmel, wenn er nicht einen so großen Wunsch gehabt hätte.
    Zu Weihnachten darf sich jeder etwas wünschen, nicht nur Kinder. Das
    Kind in der Krippe hört alle Wünsche und fragt: Was soll ich dir schenken?
    In der Weihnachtsnacht geschehen Wunder, auch in diesem Jahr. Vielleicht
    geschieht sogar das Wunder, dass du – wie der Stern – deinen Wunsch
    vergisst, wenn du das Kind siehst und es dich anlächelt.
     
  2. Melisandra

    Melisandra immer auf der Suche...

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    Das Paket des lieben Gottes
    Bertolt Brecht

    Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter an den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wen man von der Kälte erzählt.

    manche Leute, vor allem eine gewisse Sorte Männer, die etwas gegen Sentimentalität hat, haben eine starke Aversion gegen Weihnachten. Aber zumindest ein Weihnachten in meinem leben ist bei mir wirklich in bester Erinnerung. Das war der Weihnachtsabend 1908 in Chicago.

    Ich war anfangs November nach Chicago gekommen, und man sagte mir sofort, als ich mich nach der allgemeinen Lage erkundigte, es würde der härteste Winter werden, den diese ohnehin genügend unangenehme Stadt zustande bringen könnte. Als ich fragte, wie es mit den Chancen für einen Kesselschmied stünde, sagte man mir, Kesselschmiede hätten keine Chance, und als ich eine halbwegs mögliche Schlafstelle suchte, war alles zu teuer für mich. Und das erfuhren in diesem Winter 1908 viele in Chicago, aus allen Berufen.

    Und der Wind wehte scheußlich vom Michigan-See herüber durch den ganzen Dezember, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Reihe großer Fleischpackereien ihren Betrieb und waren eine ganze Flut von Arbeitslosen auf die kalten Straßen.

    Wir trabten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtviertel und suchten verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzigen, mit erschöpften Leuten angefüllten Lokale im Schlachthofviertel unterkommen konnten. Dort hatten wir es wenigstens warm und konnten ruhig sitzen. Und wir saßen, so lange es irgend ging, mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kameraden mit einbegriffen waren, all das, was es an Hoffnung für uns noch gab.

    Dort saßen wir auch am Weihnachtsabend dieses Jahres, und das Lokal war noch überfüllter als gewöhnlich und der Whisky noch wässeriger und das Publikum noch verzweifelter. Es ist einleuchtend, daß weder das Publikum noch der Wirt in Feststimmung geraten, wenn das ganze Problem der Gäste darin besteht, mit einem Glas eine ganze Nacht auszureichen, und das ganze Problem des Wirtes, diejenigen hinauszubringen, die leere Gläser vor sich stehen hatten.

    Aber gegen zehn Uhr kamen zwei, drei Burschen herein, die, der Teufel mochte wissen woher, ein paar Dollars in der Tasche hatten, und die luden, weil es doch eben Weihnachten war und Sentimentalität in der Luft lag, das ganze Publikum ein, ein paar Extragläser zu leeren. fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerkennen.

    Alle holten sich frischen Whisky (und paßten nun ungeheuer genau darauf auf, daß ganz korrekt eingeschenkt wurde), die Tische wurden zusammengerückt, und ein verfroren aussehendes Mädchen wurde gebeten, einen Cakewalk zu tanzen, wobei sämtliche Festteilnehmer mit den Händen den Takt klatschten. Aber was soll ich sagen, der Teufel mochte seine schwarze Hand im Spiel haben, es kam keine reche Stimmung auf.

    Ja, geradezu von Anfang an nahm die Veranstaltung einen direkt bösartigen Charakter an. ich denke, es war der zwang, sich beschenken lassen zu müssen, der alle so aufreizte. Die Spender dieser Weihnachtsstimmung wurden nicht mit freundlichen Augen betrachtet. Schon nach den ersten Gläsern des gestifteten Whiskys wurde der Plan gefaßt, eine regelrechte Weihnachtsbescherung, sozusagen ein Unternehmen größeren Stils, vorzunehmen.

    Da ein Überfluß an Geschenkartikeln nicht vorhanden war, wollte man sich weniger an direkt wertvolle und mehr an solche Geschenke halten, die für die zu Beschenkenden passend waren und vielleicht sogar einen tieferen Sinn ergaben.

    so schenkten wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wo es davon gerade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinein ausreichte. Dem Kellner schenkten wir eine alte, erbrochene Konservenbüchse, damit er wenigstens ein anständiges Servicestück hätte, und einem zum Lokal gehörigen Mädchen ein schartiges Taschenmesser, damit es wenigstens die Schicht Puder vom vergangenen Jahr abkratzen könnte.

    Alle diese Geschenke wurden von den Anwesenden, vielleicht nur die Beschenkten ausgenommen, mit herausforderndem Beifall bedacht. Und dann kam der Hauptspaß.

    Es war nämlich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, daß er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben mußte. Aber jeder Mensch konnte sehen, daß er in keiner guten Haut steckte.

    Für diesen Mann dachten wir uns etwas ganz Besonderes aus. Aus einem alten Adreßbuch rissen wir mit Erlaubnis des Wirtes drei Seiten aus, auf denen lauter Polizeiwachen standen, schlugen sie sorgfältig in eine Zeitung und überreichten das Paket unserm Mann.

    Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm zögernd das Paket in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was darin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf.

    Und nun geschah etwas sehr merkwürdiges. Der Man nestelte eben an der Schnur, mit der das Geschenk" verschnürt war, als sein Blick, scheinbar abwesend, auf das Zeitungsblatt fiel, in das die interessanten Adreßbuchblätter geschlagen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganzer dünner Körper (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen, er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, weder vor- noch nachher, habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder hatte ich niemals, weder vor- noch nachher, einen Mann so strahlend schauen sehen wir diesen Mann.

    Da lese ich eben in der Zeitung", sagte er mit einer verrosteten mühsam ruhigen Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, daß die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, daß ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte." Und dann lachte er.

    Und wir alle, die erstaunt dabei standen und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, daß der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus dem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung, die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum morgen dauerte und alle befriedigte.

    Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, daß dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.
     

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