Ein Plädoyer für´s Jammern

Dieses Thema im Forum "Entzündliche rheumatische Erkrankungen" wurde erstellt von O-häsin, 24. September 2018.

  1. O-häsin

    O-häsin Guest

    Hallo Ihr alle,
    wer von uns mag behaupten, wegen der Heftigkeit des Krankheitszustands oder der seiner Dauer oder wegen des Umstands, von der schnellen Überholspur nun auf der Standspur noch zu langsam zu sein, auch mal (oder häufig) wegen der Ignoranz der Behörden und Ärzte, ihrem Unverständnis und/oder ihrer nervigen Sprüche wegen, dünnhäutiger geworden zu sein. Dazu das Unverständnis, die oberflächlichen, ja mitunter auch dümmlichen Ratschläge aus dem Umfeld, den Freunden, sogar der Familie. Was auch immer uns besonders quält. Da schreit dann unsere Seele irgendwann mal auf und gibt uns zu verstehen: das alles will ich nicht mehr mitmachen. Zu recht?

    Was ist passiert? Wir sind doch früher mit diesem und jenem fertig geworden, na ja, jedenfalls besser. Wir sind doch stark. Sind wir es wirklich? Na klar, auch jetzt bemühen wir uns, niemandem einzugestehen, dass wir leiden, dass wir den Anforderungen nicht mehr in vollem Umfange gerecht werden können und ehrlich: manchmal sogar so gut wie nichts hinkriegen. Uns selbst gegenüber nicht einmal. Was würde denn auch unser Ego dazu sagen, hey? Das allein schon geht ja gar nicht. Nichts geben wir zu!

    Dabei haben wir fast übersehen, dass die Seele längst zu weinen begonnen hat bei all dem, was ungebeten über uns gekommen ist in Gestalt einer chronischen Erkrankung und im Gefolge all die Einschränkungen und Hindernisse, die zwar mal mehr, mal weniger groß sind, die uns jedoch nie mehr verlassen werden. Und was haben wir schon alles mitgemacht?

    Da bricht doch nur verständlich die Maske des Starken an mancher Stelle zusammen. Entweder wir beginnen, der Seele Raum zu geben oder sie nimmt ihn sich. Doch redet die Seele eben in ihrer Sprache, ungeschminkt und ohne Beachtung irgendwelcher Konventionen und Rücksichten, sie weint, sie klagt, sie ächzt, sie schimpft, sie jammert –mit einem Wort: sie sucht einen Weg, all das loszuwerden, was ihr zuviel ist, was sie nicht mehr allein zu (er-)tragen bereit ist.


    Wie gut, wenn sie einen rechten Ort findet, nämlich dort, wo sie noch Verständnis, vielleicht sogar Hilfe, erwarten oder zumindest vermuten kann. Der befindet sich dann wohl bei denjenigen, die selbst auch betroffen sind und eben –hier wissend verstehen.

    In diesem Sinne: Jammern, Klagen, Schimpfen ist natürlich. Es gehört zur Seelenhygiene und tut der Seele gut.

    Mit besten Wünschen allen,
    o-häsin
     
  2. Maggy63

    Maggy63 Kreativmonster

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    20.636
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    Ironien nahe d. sarkastischen Grenze
    Häsin, du sprichst mir aus der Seele. Sehr gut formuliert!
     
  3. Tusch

    Tusch Bekanntes Mitglied

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    Moin Häsin
    Da hast du so recht.
    Toll formuliert.
    Danke :knuddel:

    Einer der wenigen Orte, wo ich meiner Seele in jammernder Form mal Luft machen kann, ist tatsächlich hier.
    Und ich wurde hier noch nie enttäuscht.

    Ganz lieben Dank ans Forum und die Menschen, die sich hier um die anderen kümmern, obwohl es Ihnen auch nicht gut geht.

    LG
    Tusch
     
  4. Chrissi50

    Chrissi50 Bekanntes Mitglied

    Registriert seit:
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    Ich habs aufgegeben, die Starke zu sein, denn ich denke, dass ich gerade jetzt lernen muss, nicht immer für alles zuständig zu sein.
    Ich muss lernen NEIN zu sagen, muss delegieren lernen, muss mir eingestehen, dass ich nicht mehr so kann wie ich will.
    Und ich darf mal jammern und auf der Couch sitzen und stricken.

    Und ich denke, genau solche Dinge bringt mir mein Körper jetzt bei. Ich hab zu lange für andere funktioniert....

    Ich hätte es gerne anders gelernt, diese Krankheit wäre nicht wirklich notwendig gewesen ;)

    Gerade heute hatte ich mit meiner Schwiegertochter das Gespräch darüber. Sie weiß nun, warum und wieso ich so oft absage oder garnicht erst zusage, wenn es um Termine geht. Und dass mir vieles einfach übern Kopf wächst und große Feiern mir zu anstrengend sind. Und dass mich auch manchmal meine Gefühle überrennen und ich Pipi inne Augen hab...... weil ich lieber wieder stark wäre.
     
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  5. teamplayer

    teamplayer Bekanntes Mitglied

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    Einer der Gründe für meinen Umzug hierher war die Notwendigkeit, immer (locker) 110% geben zu müssen und nicht entspannen zu können und das über Jahrzehnte hinweg.

    Hier lerne ich seit inzwischen einem Jahr, angemessen zu handeln und zu leben. Ganz langsam, so richtig langsam, lerne ich es. Was ist entspanntes und was (zu) schnelles Spazieren gehen? Ich war viel zu schnell. Wie oft und wie lange bleibe ich im Bett, wenn ich morgens aufwache und direkt erschöpft bin? Kämpfe ich dagegen an oder bin endlich achtsam? Kann ich überhaupt achtsam sein, wie geht das? Denn letztendlich stellte sich heraus, dass ich genau das nie gelernt habe. Im Gegenteil, es wurde mir als Kind regelrecht abtrainiert.

    Inzwischen habe ich Menschen gefunden, die mir helfen, angemessen und entschleunigt zu leben. Es ist schwer, die inneren Glaubenssätze zu verabschieden und durch meine eigenen zu ersetzen. Ich ertappe mich ständig dabei, mir selbst Stress zu machen und vor allem - es als Jammerei abzutun, wenn die Kraft am Ende ist.

    Jammern ist so wichtig und manchmal merke ich nur daran, dass es Zeit für eine Erholungspause ist.
     
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  6. O-häsin

    O-häsin Guest

    Hi Tusch,
    ich habe Deine leisen Töne aus Anlaß der Überraschung in Form des Herpes´ sowie Deiner Sorgen um´s Absetzen Deines Medikaments verstanden. Deshalb auch dieser Beitrag für alle, die still leiden.

    Gute Besserung!
    häsin
     
  7. Tusch

    Tusch Bekanntes Mitglied

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    Stade, Niedersachsen
    Liebe Häsin
    Das habe ich mir gedacht.
    :)

    So wie Teamplayer hier schreibt, ist es sehr schwer, seine alten Muster zu verlassen und achtsam mit sich und seinen Mitmenschen zu sein.
    Jammern wurde mir als Schwäche anerzogen.
    Meine Psychologin hat immer gegrinst, wenn ich meinte, dass ich Jammer, und gemeint, jammern geht anders, dass müsse ich erst noch lernen :a smil17:
    Okay, ich bin auf dem Weg.

    LG
    Tusch
     
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  8. Eumel2

    Eumel2 Bekanntes Mitglied

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    Danke für diesen Thread, O-Häsin, Du hast das sehr gut formuliert.

    Ich gehöre auch zu denjenigen- wie Tusch es schon passend beschrieb, denen die Jammerei sozusagen
    untersagt und aberzogen wurden. Klagen war nicht erlaubt.......Zähne zusammen beißen, klaglos.

    Und das Nicht-klagen zieht sich durch mein ganzes Leben, Zähne zusammen und durch, auch beruflich.

    Das Problem dabei ist nur.......die "Leute", Kollegen, Freunde, Verwandte, sagen, die hat doch nix, ich habe dieses und jenes.... das kann doch nicht soo schlimm sein.

    Aber daß ich mich genau aufgrund dieser gesundheitlichen Problemen teilweise zurückziehe und vieles nicht mehr mitmachen kann, wird nicht verstanden......
     
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  9. Chrissi50

    Chrissi50 Bekanntes Mitglied

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    Nähe Ffm
    Da gibts einen passenden Spruch: lerne leiden ohne zu klagen. Den sagte Mama immer ironisch, wenns ihr mies ging.

    Ist wohl eine alte Tugend.
     
  10. Tusch

    Tusch Bekanntes Mitglied

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    Stade, Niedersachsen
    Moin Eumel
    Genauso ist das.
    Oft ganz erstaunte Gesichter „wie? Du hast Rheuma? merkt man gar nicht.“
    Klar, da kann man keine Hilfe erwarten. Und jammern wird als befremdlich empfunden.

    Einen gute Mittelweg zu finden, da liegt die Herausforderung
     
  11. O-häsin

    O-häsin Guest

    Das Gefühl hatte ich auch.

    Ich bin ja auch nicht der Besserwisser, hab ja selbst mit mir zu kämpfen mit den gelernten psychologischen Antreibern. Ich sag dann immer, wenn ich nicht auf mich achte, stattdessen mich überfordere, es sei mein Temperament dagegen. So hört sich das besser an. Bedeutet aber nichts anderes, als lernunfähig zu sein. Ach, haja.

    Aber: wie weit wären wir gekommen, wo hätten wir uns eingesetzt, wem hätten wir gedient, wenn wir diese inneren Antreiber nicht hätten? Es gilt nur aufzupassen, dass sie uns nicht beherrschen und sie nicht die Seele überlagern. (Sie hat schließlich ein Mitspracherecht! Ansonsten sie uns ungehemmt dazwischenquasselt, was so wohl auch nicht gewünscht ist.)
    Dazu genügt es schon, so wach zu sein, die Antreiber zu erkennen, um uns im Handeln frei zu entscheiden können.
    Auf in den Kampf? Nein, locker bleiben mit sich selbst und leben.
     
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  12. Tusch

    Tusch Bekanntes Mitglied

    Registriert seit:
    23. März 2014
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    Stade, Niedersachsen
    Ja.. genau so.
     
  13. Adolina

    Adolina Bekanntes Mitglied

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    6. April 2006
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    Erlenbach/ Main
    O-häsin,:)

    super, dein Thread :1syellow1: Du sprichts mir voll aus der Seele.
     
  14. Hans_aus_AT

    Hans_aus_AT Mitglied

    Registriert seit:
    25. September 2018
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    66
    Hallo,
    ich bin auch gerade am Anfang der Erkrankung.
    Und es ist für mich noch schwer paar Gänge runterschalten.
    Ich mach zum Bsp viel am Haus.
    Letztens den Zaun - nach 1,5 Std mit Mauern und betonieren - habe ich gedacht - mich zerlegt es in meine Einzelteile, so stark war ich ausser Atem.
    Voriges Jahr noch habe ich ohne Probleme eine 40m Mauer alleine gemacht.
    Schmerzen habe ich schon seit Jahren, aber nie beachtet.
    Seit meine Mama im Februar gestorben ist, geht's mit mir bergab.
    Da helfen solche Beiträge schon - ich lese schon länger still mit.
    Viele Grüsse Hans
     
  15. Milica

    Milica Bekanntes Mitglied

    Registriert seit:
    27. Januar 2018
    Beiträge:
    1.466
    Hallo O-Häsin,
    Ich reie mich mal auch ein. Danke für deinen Beitrag und ja ich stimme dem auch zu. Ich durfte auch nicht jammern, und habe es mein ganzes Leben auch nicht getan. Selbst ich, konnte auch nicht mit Menschen umgehen, die es taten. In letzter Zeit hab ich viel " gejammert" und habe schnell gemerkt, dass mein Umfeld damit auch nicht umgehen kann. Selbst meine beste Freundin scheint ab und zu genervt, was mich tierisch kränkt. Dann zieh ich mich zurück. Ich war immer die Starke, die auch noch locker den Karren vollgepackt mit Arbeit und Sorgen aller gezogen hat, auch wenn ich mal hinfiel, stand ich auf und zog ihn brav weiter. Jetzt geht es nicht mehr und ich habe teilweise das Gefühl der Stress, die antrainierte Hektik und die Überlast hat sich nicht nur im Körper gezeigt, sondern hat sich regelrecht in den Zellen abgespeichert. Das wegzubekommen scheint harte Arbeit, sowie viel Selbstbeobachtung. Ich kann noch immer schwer nein sagen. Ich bin noch ganz am Anfang meiner Reise. Selbst wenn ich nicht mehr laufen konnte, habe ich einfach weiter gemacht. Deswegen hat man mir oft auch nicht geglaubt, dass es wirklich sooo schmerzhaft ist / war. Ich bin auch froh, hier mal ab und zu etwas jammern zu dürfen.
    LG Mili
     
  16. Chrissi50

    Chrissi50 Bekanntes Mitglied

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    Nähe Ffm
    Ich glaub wir haben alle ziemlich viel gemeinsam, und ich meine nicht unsre Krankheit.
     
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  17. O-häsin

    O-häsin Guest

    Gewiß, Chrissi, wahrscheinlich die nicht immer bewußte, unterschwellige Trauer oder sowas in der Richtung. Jedenfalls sitzen wir alle im gleichen Boot.

    Dank auch an alle, die sich hier für andere einsetzen.
     
  18. Mara1963

    Mara1963 Guest

    Ich finde den Thread auch eine gute Idee O-häsin. So kann jeder mal rauslassen was ihn beschwert.

    Ich persönlich jammere kaum, weil es mir nichts bringt. Das zieht mich noch mehr runter und in meinem Umfeld wird das kaum verstanden, wobei ich das nicht genau wüsste. Sein Leid nach außen tragen könnte durchaus nerven.

    Ich erzähle hin und da, dass ich mich nicht gut fühle bzw. schlapp und müde wg. der Krankheit und damit ist es gut für mich.

    Manche sind enttäuscht, da ich nicht mehr überall dabei bin und alles mit unternehme oder auch nicht mehr so reiselustig bin für ein verlängertes Wochenende (zumindest nicht häufig), da mir das zu stressig ist, ich brauche das WE zum Ausruhen und meinen Haushalt, verstehen manche nicht; doch das tangiert mich weniger. Ich kann mir am meisten selbst helfen indem ich mein Leben meinen Bedürfnissen anpasse, soweit das machbar ist.

    Mich strengt hin und da mein Vollzeitjob sehr an, da meine ganze Wochen-Energie dabei drauf geht seitdem ich nicht mehr gesund bin und da könnte ich viel jammern, doch was nutzt mir das, ich brauche das Geld, da ich Alleinverdiener bin. Da jammere ich dann hier im Forum oder in meiner Selbsthilfegruppe und dort werde ich verstanden. Doch an der Sache ansich ändert sich deshalb dennoch nichts.

    Doch es tut auch gut verstanden zu werden.

    Grüße an alle von Mara
     
    #18 25. September 2018
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 25. September 2018
  19. PiRi

    PiRi IG-Mitglied

    Registriert seit:
    27. September 2006
    Beiträge:
    12.721
    Ort:
    Herne
    Ohne Schuldzuweisung an irgend jemanden.... mal jammern können und Verständnis erhalten ist etwas Großes.
    Danke für den Thread.
     
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  20. O-häsin

    O-häsin Guest

    Hi Mara, es tut seeehr gut, verstanden zu werden. Ohne sich verstanden zu wissen, könnten wir wohl nicht leben.
    Ich klage schon mal kurz, um zu hinterlassen, dass und was mich beschwert. Aber jammern ist schon schwieriger und schon gar nicht dauernd. Auch mir selbst gegenüber nicht, denn, wie Du sagst, es bringt nichts. Das muß sowieso dosiert werden und ist in meinen Augen nur am rechten Ort wirklich möglich, ohne zu nerven. Die wenigsten halten so etwas aus. Doch manchmal braucht man mal einen "Ablegeplatz". Wenn man Glück hat, hat man -neben dem Forum- auch noch Familie oder Freunde (wenigstens einen), die bereit sind, jammern zu ertragen. Ein Freund versteht auch, ohne etwas zu hören. Ich hatte das Glück.
    Das wünsch ich allen.
    Gruß, häsin
     
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